4.11.97

SPÄTWERKE DER NOTORISCHEN REBELLEN - Das 30.Total Music Meeting im Podewil (TAZ)

 

Während auch diesmal wie jedes Jahr die Jazzfreunde im Haus der Kulturen der Welt ihr Jazzfest feiern, in herrlich satten Bigbandklängen und weitgeschwungenen Improvisationen schwelgen können, hauen die Stiefkinder des Jazz zum 30jährigen Jubiläum des Total Music Meetings im Podewil auf ihre eigene Pauke. Daß sie sich einst als Stiefkinder des Jazz sahen, wurde durch den rebellischen Akt der Gründung ihres Gegenfestivals bewiesen, und ihr Instrumentarium, Saxophone, Schlagzeuge, Zupfbässe usw. untermauert das. Die Totale oder Freie Musik, wie sich das europäische Pendant zum amerikanischen Free Jazz ganz bewußt nennt und dessen deutsche und englische Gründerväter sich mit ihren italienischen und französischen Nacheiferern und einigen amerikanischen Patenonkeln vom 5.- 9. November treffen werden, ist indessen kein Jazz. Nicht nur kein Jazz, sondern die Antimaterie jeglicher kategorisierbarer formalisierter Musik, Laut gewordene Integration von Psyche und Physis und Interaktion extrem eigensinniger Individualitäten. Die Kunst, die entsteht und nur im Moment ihrer Hervorbringung existiert, ist das Handeln sich selbst vorfindender Instrumentaler Personen in der Enge des Klangraums. Vorhersagen über den Moment sollten nicht zu machen sein, aber einiges scheint dennoch sicher: Evan Parkers Tenorsaxophon wird wie durchknallende Lautsprecher klingen, sein Sopran wie ein Käfig mit hundert Spatzen, Peter Brötzmann wird rot anschwellen und seine Kollegen werden sich gegen ihn durchzusetzen haben und Klavierkaskadeur Alexander von Schlippenbach wird Mühe haben, den Free-Jazz-Opa Sam Rivers an dessen Vergangenheit mit Cecil Taylor zu gemahnen. Daß unter den Deutschen vornehmlich ältere Herrschaften auftreten werden, die schon vor dreißig Jahren die Szene bildeten und jetzt ungefähr so alt sind wie Beethoven, als er starb, ermöglicht zu prüfen, ob die lange Erfahrung mit dieser Kunst zur Ausbildung eines Spätstils führen kann, mithin, welche geistigen Kapazitäten die Freie Musik besitzt - es ist ein lebenslanges Experiment, dem sich ihre Helden ausgesetzt haben.

Wie unterschiedlich das Spiel an der Peripherie der Musik sein kann und wie unähnlich sich die Freien Musiken der anderen europäischen Länder sind, werden die Auftritte des italienischen Duos des Klarinettisten Gianluigi Trovesi und des Akkordeonspielers Gianni Coscia sowie des Piano/Baß-Duos von Christine Wodraschka und Yves Romain zeigen. An fünf langen Abenden haben fast alle Ensembles eine zweite Chance - die totale Freiheit birgt das Risiko totalen Mißlingens. Wer nichts erwartet, wird viel bekommen. Nur Sitzfleisch sollte man mitbringen.

M.R.Entreß

 

Podewil, 5.- 9. November, jeweils ab 21 Uhr, Klosterstr.68 - 70