OSTERMARSCH DER FREIEN MUSIK
Alter und Neuer Freistil beim Workshop Freie Musik in der Akademie der Künste
Während im Tiergarten friedlich die Osterglocken läuten, werden durch die nahe Akademie der Künste wie fast jedes Jahr beim Workshop Freie Musik die rauheren Klänge der Outlaws der musikalischen Improvisation wehen.
Seit sich in den sechziger Jahren die europäischen Jazzmusiker mit ihren Antworten auf den amerikanischen Free Jazz von ihrer Rolle als Nacheiferer befreiten, haben sie eine große Leichtigkeit im Umgang mit allen verfügbaren Stilmitteln und Spieltechniken erworben. Der Workshop Freie Musik, der sich in manchen Jahren vielleicht aus erfinderischer Not auf ein musikalisches Konzept oder einen instrumentalen Schwerpunkt beschränkt hatte, trägt im dreißigsten Jahr dieser faszinierenden Vielfalt Rechnung. Dabei werden scheinbar konventionelle Jazz-Besetzungen wie das Schlippenbach-Trio in seiner legendären Besetzung von 1969 und die (ost)deutsch-englische Gruppe mit Dietmar Diesner, Ulrich Gumpert und Tony Oxley an Saxophon, Klavier, Schlagzeug, Kombinationen gegenübergestellt, die wie das »Holz-für-Europa«-Bläsertrio mit Peter van Bergen, Wolfgang Fuchs und Hans Koch gewisse klangplanerische Anstrengungen erwarten lassen. Auch das schlagzeugfreie Trio mit der Sängerin Dorothea Schürch steht eher in der Tradition der experimentellen Musik als des Jazz. Der Schlagzeuger Paul Lovens wird seine phantastische Virtuosität nicht nur im Schlippenbach-Trio sondern auch im Duo mit dem Amerikaner Eugene Chadbourne vorführen, an dessen groteske Gitarrenvergewaltigungen mit Luftballons sich wohl noch mancher erinnern mag. Das einzige ungewöhnliche Instrument des Festivals wird der Drehleierspieler Dominique Regef im Duo mit dem Gitarristen Jean-Marc Montera bedienen und man kann gespannt sein, wie der zwar reizvolle, doch sehr mit der uralten Volksmusiktradition verbundene Klang den Ausbruch in die Gegenwart verträgt. Posaunist Konrad Bauer, einer der Säulen des DDR-Jazz und Pianist Fred van Hove, dessen kraftvolle Miniaturen auch »Klassik«-Freunde begeistern würden, trauten die sich nur hierher, werden als Solisten auftreten. Ob und wie die Freie Musik auf den US-Free-Jazz zurückgefärbt hat, kann man bei William Parkers »In-order-to-survive«-Quintett untersuchen, das durchaus an den als Stimme des politischen Protests gemeinten Avantgardejazz der 60er Jahre anschließt.
Matthias R.Entreß
Workshop Freie Musik, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, vom 9. bis 13.4. jew. 21 Uhr. Tageskarte DM 20, Dauerkarte DM 50
DER KREIS SCHLIESST SICH
Der 30. Workshop Freie Musik in der Akademie der Künste
Die Gruppe »Holz für Europa« hatte sich einen ganzen Wald aus riesigen tieftönenden Klarinetten auf die Bühne gestellt, ein schöner, erhebender Anblick, der die Faszination der experimentellen Musik wiedererweckte. Die drei europäischen Herren, die sich dann in tödlichem Ernst die Klangwelten früherer Avantgarden herbeiriefen, taten gut daran, nur kurze Etüden zu improvisieren, denn bei ihrem ersten Auftritt waren sie kläglich daran gescheitert, die vielen Möglichkeiten ihres Instrumentariums ohne Komposition in einem längeren komplexen Verlauf zu binden. Doch Wolfgang Fuchs und seine beiden Kollegen aus der Schweiz und Holland sind Jazzmusiker, nicht Komponisten, und der diesjährige Workshop Freie Musik, traditionsgemäß über die Ostertage in der Akademie der Künste abgehalten, stellte die Freiheiten vor, die sich Free-Jazzmusiker inner- und außerhalb ihres angestammten Musikbereichs nehmen.
Auch das Trio der Stimm- und Mundakrobatin Dorothea Schürch, des Saxophonisten John Butcher und des Elektronik-Gitarristen Erhard Hirt »jazzte« nicht locker. Die vorgegebene Rollenverteilung erleichterte jedoch die Orientierung im Klangraum. Alle drei einander aufmerksam beobachtenden Musiker sind Meister der Klangverfremdung, sodaß sich die durchweg konzentrierte Kammermusik zwischen konzertierendem Dialog und engem gleichsam geräuschakkordischem Schulterschluß bewegte.
Das Chaos als Ausgangspunkt nimmt das französische Duo von Jean-Marc Montera und Dominique Regef, die aus einer auseinandergenommenen E‑Gitarre und einer Drehleier ein Kontinuum von Splitterklängen schufen. Streckenweise vereinzelt, dann wieder aufeinander zulaufend, ergab sich ein Dialog, der in einer völlig fremden Sprache doch wieder ein Abbild menschlichen Verhaltens und Fühlens wurde. Die seltenen Momente des bestimmungsgemäßen Gebrauchs der Drehleier wirkten wie das Einbrechen einer gänzlich fehlplazierten Kultur. Wie befreiend heiter und überraschend wirkte dagegen Eugene Chadbourne, der Banjo und Gitarre mit Luftballons bearbeitete, in seine Krachexzesse unvermittelt ein paar Countrysongs einflocht und also sein ganzes musikalische Kinderzimmer durcheinanderwirbelte und dabei - halb zog er ihn, halb sank er hin - den den munter begleitenden Free-Jazz-Drummer par excellence Paul Lovens dazu brachte, den Beat der 60er zu schlagen.
Der Workshop Freie Musik war in seinem 30. Jahr ungewollt ein Plädoyer für den Free-Jazz. Erhielten die ernsthaften Bemühungen der Totalverweigerer zwar stets anerkennenden Beifall, fand man das reine ästhetische Vergnügen auf höchstem Niveau doch nur wieder bei den bekennenden Free-Jazzern, die mit oder ohne vorgefaßtes Konzept auf dem Boden ihrer Möglichkeiten blieben. Tatsächlich haben Pianist Alexander Schlippenbach, Paul Lovens und Saxophonist Evan Parker jedenfalls in dieser Besetzung ihre experimentellen Phasen schon lange hinter sich und vermeiden keinesfalls die guten alten ekstatischen Ausbrüche, für die man den Free-Jazz liebt. Sehr beherrscht und präzise in der Formulierung moderner Harmonik arbeitete das Trio von Ulrich Gumpert, Klavier mit dem ungeheuer feinnervig reagierenden Saxophonisten Dietmar Diesner und Tony Oxley am Schlagzeug. Mit unterschiedlichen Konzepten, mal mit mutwilligem an die Grenzen der Belastbarkeit stoßendem Power Play, dann mit notiertem thematischen Material stellte sich des Bassisten William Parkers »In order to survive«-Quintett vor. Ungewohnter Anblick: Die junge Susie Ibarra am Schlagzeug, die sowohl den untergründigen Puls des schwarzen Free-Jazz der 60er Jahre als auch das emanzipierte Klopfen ihrer europäischen Kollegen beherrschte.
Nur
mit sich selbst beschäftigt und damit wirklich frei waren die solistisch
auftretenden Musiker. Fred van Hoves Klavierspiel wucherte naturhaft und
verweilte bei schönen Augenblikken, während Konrad Bauer sich mit elektronischem
Zubehör vervielfältigte und sich vom selbstidentischen Posaunenchor begleiten
ließ.
Wo immer es sie gab, war die Freie Musik eine Begleiterscheinung sich entwickelnder Demokratie. Sie war einst eine Musik der jungen Intellektuellen, doch die wenigen jüngeren, (Montera/Regef und das Schürch Trio) bauten auf Vorhandenem. Dieser Workshop bot viel Stoff für einen ästhetik-geschichtlichen Diskurs, aber er gab keinen Hinweis auf die musikalischen Ausdrucksformen der heutigen jungen Dissidenten. Gibt es sie nicht?
Matthias R.Entreß