NICHT DER DIRIGENT, SONDERN DIE MUSIK!
- Günter Wand gastiert bei den Philharmonikern -
Nachdem
alle bei der Dirigentenbeschreibung üblichen Superlative versagt hatten, war
man auf das schlichte Wort "Phänomen" verfallen, um seine
musikalisch einfach nicht auf einen Nenner zu bringende Persönlichkeit zu
bezeichnen. Doch nicht die Person, sondern stets nur die Musik ist das
Phänomen, wenn Günter Wand ihr Diener ist. Der musikalische Sonderfall, als welcher (nach jeweils erneutem langen Partiturstudium) jedes Stück unter
Wands sorgenden Händen erkennbar wird, verlangt so viele Proben, daß der
Dienstplan knirscht und sich jegliche Routine zur innigen Vertrautheit mit
dieser nach dem tertium non datur (dem
Dritten, das es nicht gibt) greifenden Präzision des Geistes
verwandelt, wie sie sich im Werk
ausdrückt.
Wie bei den vier Elementen der Welt, Erde, Wasser, Luft und Feuer das Feuer ein Prozeß ist, der Leben erst ermöglicht, so haucht Wand den Elementen der Musik, Rhythmus, Melodie und Harmonie, das Feuer des Schöpfungsgedanken ein und fügt sie zum bedeutenden Zusammenhang. Dem Hörer geht es bei Wand wie dem ABC-Schützen: Aus Kringeln werden Worte. Aber wie macht er das?
Alle Musik wird bei Wand von einem tänzerischen Grundgefühl getragen; sie schwingt, besitzt einen Körper. Man erfährt Rhythmus, wo man ihn nicht erwartet, z.B. wenn die Streicher am Anfang des Adagios von Bruckners Achter Symphonie eine große imaginäre Glocke bilden oder (vor elf Jahren in Hamburg) wenn bei György Ligetis "Lontano", eine als stehender Klang bekannte Musik die Zeit als Kraft ins Spiel tritt und man den Eindruck einer sehr langsamen, sehr sanften - Ballettmusik gewinnt.
Nun ist Wand bekanntermaßen kein "langsamer" Dirigent. "Wohlabgewogen" sei die Tempogestaltung Wands - nein, sie ist nicht seine Strategie, sie ist seine Erkenntnis. Indem er die musikalischen Verläufe aus ihrem Inneren heraus gestaltet, macht er ihr jeweiliges Gewicht erfahrbar. So wird der sich den Klangmassen entgegenstemmende Anstieg zum Höhepunkt des Adagios der 8.Bruckner zu einem erschütternden, den Fortgang der Welt infragestellenden Vorgang (wo Eugen Jochum ein Raketentriebwerk zündete), manch früher Schubert dagegen hüpft so selig, als wäre keine Welt, und unter seinem vorwärtstreibenden Stab tobt das Allegro con brio in Beethovens Fünfter unerbittlich, atemlos, selbstzerstörerisch, ja in manischer Besessenheit dahin. Andere erschrecken da vor ihrer eigenen Courage. Wenn, wie hier, in der Komposition ein Konzept vorliegt, das selbst Sinn und Ausdruck trägt, ordnet Wand ihm die musikalischen Momente unter - und stellt sie an den ihnen gebührenden Platz. Das ist es, was einem ein bekanntes Stück, das man erstmals unter Wand vernimmt (und später immer wieder), so neu erscheinen läßt, aber die Tempi, die Lautstärkeverhältnisse und die oft überreiche Stimmenvielfalt haben schon immer so in der Partitur gestanden.
Wie sorgfältig Wand die Einzelstimmen pflegt und sie aussingen läßt, statt sie leichtfertig in die Harmonie abzukommandieren, kann bei jedem seiner Auftritte erlauscht werden, nirgends jedoch sinnfälliger als in den komplexen Strukturen der Symphonien Bruckners. Die Klarheit, mit der die in manchmal geradezu kosmischen Zusammenhängen stehenden Linien parallel laufen und sich dann wieder verflechten, verlangt von Hörern wie Musikern Gelassenheit und Konzentration gleichermaßen.
Bei anderen Komponisten führt Wands Werktreue, die viel mehr eine schöpferisch-menschliche Verbundenheit mit dem Komponisten ausdrückt, zu völlig anderen Ergebnissen und Problemen. Die grelle Klarheit, die bei Mozartsinfonien in Interpretationen "auf Originalinstrumenten" doch sehr rasch ihren Reiz verlieren kann, ist Wands Sache nicht. Hier zeigt er sich als ein Maler, der die Breite seiner Pinsel sehr sorgfältig zu wählen weiß. Tatsächlich ist dies die eigentliche Sensation seiner Mozartaufführungen, daß er die Dichte des Klanges zwischen Linearität und Harmonie als einen eigenständig zu erlebenden Verlauf gestaltet und Mozarts tiefe Kenntnis vom Schwanken des menschlichen Geistes zwischen Handeln und Reflektion enthüllt.
Bei
Schumanns "Rheinischer Symphonie" führt diese Konsequenz in der
Klanggestaltung über weite Strecken zu einem an Ideen überschäumenden Dschungel
von hochgestimmten Empfindungen. Hier nicht die Strukturen zu
lichten, sondern den Hörer mit der speziellen Problematik der Komposition zu
konfrontieren, definiert genau Wands Auffassung von musikalischer Wahrheit,
die er nun schon seit über 60 Jahren erforscht und dabei zu keinem Ende
gefundenen hat. Nicht nur
ergeben sich bei jeder Neueinstudierung neue, vorher ungehörte Schönheiten,
das Werk selber erscheint unerhört, seine Existenz rätselhaft; ein Etwas, das,
wie sonst nur die Natur, alles Denkbare gedacht hat, ein unverdientes
Geschenk, ein "Kuß der ganzen Welt", wie es in Schillers Ode an die Freude heißt.
Die wenigen Werke, die Wand in diesen Jahren dirigiert, sind die Essenz seines Lebens. Bruckners Vierte hat er sich seit fünf Jahrzehnten immer wieder neu angeeignet, sie aber in Berlin sehr lange nicht gespielt. Der Dirigent ist in der Stadt und bereitet sie seit Montag für die Philharmonischen Konzerte von Freitag bis Sonntag vor.
Matthias R.Entreß