3.11.97

AVANTGARDISTISCHES BOULEVARDTHEATER MIT ABGESTÜRZTEM ARCHITEKTEN

 

Der polnische Dichter Tadeusz Rózewicz (geb.1921) hatte sich Adornos Wort, nach Auschwitz könne man kein Gedicht mehr schreiben, zueigen gemacht und eine spröde, um das Wort und die Form ringende Lyrik geschaffen. Seine »nicht-szenische Komödie« »Der unterbrochene Akt« kommt im Theaterforum Kreuzberg zwar leichtfüßig und witzig daher, weigert sich aber, bewährte Spielformen, ja selbst das Theater als solches als gegeben hinzunehmen. Im unspielbaren Original stehen 5 Seiten Dialogschnipsel 25 Seiten polemischen Reflexionen gegenüber. Die vom Regisseur Rudi Müller-Poland in glasklarer Sprache aus diesem Material exzerpierte Version dramatisiert also die Unmöglichkeit von Theater und die Unvereinbarkeit von subtiler dichterischer Idee mit den groben Mitteln der Bühne. Gleichwohl wird anhand eines Aufklärungsdramas im realistischen Ibsenstil der Versuch gewagt - unter ernsten Vorbehalten. Eine symbolschwangere Handlung über das Scheitern des berühmten Architekten Carl Hansen und seines Meisterwerks läuft nurmehr auf einer Meta-Ebene mit, ist bloß eine Möglichkeit, deren Realisierung auf dem Theater durch ständige Einwürfe eines philosophischen Conferenciers (Hannes Kühl) und durch den beherzt eingreifenden zum Schütteln treffend nachgemachten Inspector Columbo (Roberto Valentini) unterbrochen wird. Obwohl Drama und Theater durch das Stück selbst verleugnet wird, ergibt sich überraschend eine geschlossene Form. Spricht im Talkshow-Vorspiel ein Dichter-Double von seinem Interesse an den unsichtbaren Dingen, z.B. Stubenfliegen und Zahnplomben, so werden auf der Bühne auch derart subtile Details mit einer metaphorischen Bedeutung aufgeladen, die ihnen sonst nicht zukommt. In dem so postulierten avantgardisti­schen Boulevardtheater wird das Publikum, in dessen Köpfen die Idee des Stücks fortlaufend entsteht, auf äußerst anspruchsvolle Weise unterhalten. Das Sahnehäubchen sind allerdings die vom bekannten Liedermacher Ulrich Roski komponierten Gesangseinlagen, bei denen man sich unwillkürlich fragt, ob dies nicht doch richtiges Boulevardtheater zum Sichwohlfühlen ist. Das Ensemble des Theaterforums Kreuzberg hat sich mit Rózewiczs Text von 1965 ästhetisch in höchste Gefahr begeben und ist nicht abgestürzt. Jede künstlerische Produktion und auch Rezeption bedarf einer sich selbst radikal infragestellenden Analyse, um sich erneuern zu können. Mit dieser polnischen Spielart des absurden Theaters ist ein frischer Blick auf das Standardtheater möglich geworden.

Matthias Entreß

 

Theaterforum Kreuzberg, Eisenbahnstr.21, 10997 Berlin, Tel.: 618 28 05, jeweils Freitag bis Sonntag, 20 Uhr, bis 7.Dezember