Mai 1998
AB GEHT DIE POST! DIE JUNGE AVANTGARDE MACHT IM POSTFUHRAMT MOBIL
Was im Berliner Avantgarde-Underground brodelt, feiert beim Festival experimenteller Kunst "...und ab die Post 1998" ab heute 20.00 Uhr zum zweiten Mal seinen jährlichen Ausbruch im alten Postfuhramt in Mitte (Oranienburger- Ecke Tucholskystr). Johann Nowak und Sylke Bluhm von der aktions galerie haben sich in den Abseiten der Galerienszene und im Berliner Underground umgetan und eine Auswahl von fast ausschließlich in Berlin lebenden und hier noch nicht ausreichend präsentierten Künstlern getroffen, die sich weit abseits der konventionellen und kommerziellen Kunst um die Formulierung eigener und neuer Aussagen bemühen. Daß der postgelbe Klinkerbau mit seinen vielen großen und kleinen Räumen und insgesamt 2000 qm Ausstellungsfläche auch dieses Jahr wieder zur Verfügung steht - aus Kostengründen leider nur 2 Wochen - kann bloß als das pure Glück für die Künstler und die Betrachter bezeichnet werden. Der Gang durch die zwei Stockwerke erweist sich als Wechselbad für die Sinne. Viele der aufwendigen Installationen mit interaktiven Videoprojektionen, Environments, mechanischen Skulpturen, aber auch Photoarbeiten und Objekten, verlangen ihre jeweils ganz eigene Annäherung. Vom überwältigenden Klappern, Rattern und rhythmischen Hämmern, das die zu Hunderten vom Holländer Bastiaan Maris in den großen Kuppelsaal eingebauten Relais machen, kann man sich in der fast vollkommenen Dunkelheit von Nelson Vergaras (Kolumbien) Filmprojektion erholen. Zauberhaft ist die computergesteuerte Video-Taube des Brasilianers Dietmar Starke, die wegfliegt, wenn man nähertritt, aber zu träumen beginnt, sobald der Betrachter still stehenbleibt. Gegenüber dem letztjährigen "...und ab die Post"-Festival, das sich locker und verspielt präsentierte, ist die Beherrschung der in jedem Werk neu erfundenen Medien sicherer und im Ausdruck genauer. Allerdings wurde schon in der Auswahl auf die direkte auch emotional zupackende Wirkung geachtet, Bedingunen, die die Avantgarde neuerdings meisterhaft bedient, ohne auch nur im geringsten den Verdacht intellektueller Tieffliegerei aufkommen zu lassen. So führen die von Stefan Miteff in die ganze Ausstellung gelegten metergroßen kressebegrünten Fußstapfen vielleicht in eine sehr lebendige künstlerische Zukunft Berlins, deren Anziehungskraft durch den Zuzug ausländischer Künstler kraftvoll belegt wird.
Immer
noch im Gespräch für die Präsentation der Berlinischen Galerie, beweist das
alte Gemäuer einmal mehr, welch ein hervorragender Kunststandort es ist. Die
aktions galerie hofft allerdings, daß es für die vielfältigen Avantgardespektakel
wie in den kommenden 2 Wochen freibleibt, zumal diese in der Galerienszene
zwischen Hackeschen Höfen und Auguststraße ihre Heimat haben.
Die Ausstellung, die ohne kräftige Unterstützung des Kulturamts Mitte, Förderband e.V. und privaten Sponsoren nicht möglich geworden wäre, wird täglich ab 20 Uhr von einem mindestens genauso abwechslungsreichen interdisziplinären Veranstaltungsprogramm begleitet, das zwischen Tanz und Theater, Techno und Free Jazz, einer portugiesischen Staubsaugerperformance mit symphonischer Qualität und einem Stahlcellokonzert mehr bietet, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt.
Matthias R.Entreß
Postfuhramt Oranienburger- Ecke Tucholskystr. in Mitte. Ausstellung bis 31.05, tgl. 14-22, mo bis 24 Uhr, DM 6 (Erm.). Veranstaltungen tgl. ab 20 Uhr, DM 10 - 20 (Erm.) Infotelefon 2859 9650 (aktions galerie)