AUCH DIE AVANTGARDISTEN KÖNNEN NEUJAHR FEIERN

- "Musikmißbrauch" in den Sophiensaelen -

 

Ein Neujahrskonzert der wider­ständigen Art präsentierte der Musikkonzeptualist, Dirigent und Fötist Christian von Borries im Festsaal der Sophiensaele. Im Zeichen des Protestes gegen die besinnungslose Einbindung hehren Kulturgutes wie der 9.Sinfonie von Beethoven in das Gefühls­ritual des Jahreswechsels stellte er zum Auftakt seiner im April fortzusetzenden Konzert­reihe "Musikmißbrauch" Beispielen zu oft gehörter Musik Komposi­tionen der Klang­ver­meidung gegenüber.

Was Musik zu leisten imstande ist, wenn man auf das gesittete Maß verzichtet, erfuhr man gleich beim Eintritt in den Vor­raum, wo Polkas und Walzer von Johann Strauß gleichzeitig aus zwei Fernsehern hüpften und sprangen und abseits schein­subtiler Interpretationen ihr wahres lustvolles Wesen zeigten.

Das nachfolgende Programm übte sich demgegenüber in größter Vor­sicht bei der Klangpro­duk­tion. Dieter Schnebels "nostal­gie, Solo für 1 Dirigenten" karikierte einerseits das übertriebene und zur Schau gestellte Gestenrepertoire einschlägig bekannter Stardiri­genten, ließ aber zugleich die vom überwältigenden Hörerlebnis befreite abstrakte Struktur der Musik in der klanglosen Nach­zeichnung ahnen. Noch mehr die Phantasie des Hörers forderten die musikalischen Skizzen des Fluxuskünstlers George Brecht, die die Möglichkeit von Musik nur kurz aufscheinen ließen, sie aber nicht ergriffen: Eine Flöte wird zusammengesteckt, wieder auseinandergenommen und Schluß.

Höhepunkt des Abends war die Aufführung der beiden letzten Sätze der "Neunten" in Johann Nepomuk Hummels Bearbeitung für Flöte und Klaviertrio. Während vom langsamen 3.Satz nurmehr das Gerüst der Musik dargeboten wurde und es eine Frage des Erinnerungsvermögens war, ob man sich in himmlische Gefilde forttragen ließ oder die sonst überwucherte Struktur als solche bewunderte, wurde das Chorfinale ohne Chor mit der Videoeinblen­dung eines Karajan-Konzerts konfrontiert. Als beim "Freude schöner Götterfunken" hinter der Bühne dann auch noch ein paar Matten China-Kracher abgebrannt wurden sowie die erschütternden Bilder aus den Tagen der Maueröffnung und ein in Tränen aufgelöster Leonard Bernstein aufleuchteten, der damals den Text des Chors mißbräuchlich in "Freiheit schöner Götterfunken" hatte ändern lassen, kam das Wechselbad der Gefühle einer finnischen Sauna gleich. Endgültig wurde klar, daß man sich als Hörer von der Rezep­tions­geschichte großer Musik zu lösen habe, um ihr selbständig neu begegnen zu können.

Dieses überaus unterhaltsame Neujahrskonzert war der gelungene Versuch, ein Fest für jene anspruchsvollsten Musikfreunde zu gestalten, denen Denken und kritische Betrachtung das größte Vergnügen bereitet.

Matthias R.Entreß