Sommer 1998

50 JAHRE MUSIQUE CONCRETE

Ein Moment in der Musik­geschichte mit großen Folgen

 

Klirren. Ein Klavier, wie durch einen Strohalm eingesaugt. Fabrik­lärm. Harte Abbrüche. Es war 1948, als ein genialischer Ingenieur namens Pierre Schaeffer (1910-95) im Experimentalstudio des fran­zö­sischen Rundfunks Piano­klänge und Eisenbahngeräu­sche schnell, langsam und rückwärts lau­fen ließ und begriff, daß dies der Anfang einer neuen Musik war, die er "musique concrète" nannte.

Die ersten elektronischen Instru­mente und Methoden zur Ver­ände­rung des Klanges waren schon in den 20er Jahren erfunden wor­den, doch die revolutionäre Idee der musique concrète bestand darin, daß Komposition hier nicht mehr von einer exakt zu notierenden Klang­­vorstellung aus Melodik und Harmonik, sondern von vor­han­denen, gespeicherten Klängen ausging. Diese aku­stischen Zitate konnten, und das machte die musique concrète zu der musika­li­schen Version des syn­thetischen Kubismus, in Mu­ster zer­legt, col­lagiert und elek­tronisch oder mechanisch verfremdet werden, den technischen Bedingun­gen ent­spre­chend. Und die­se waren anfangs dürftig, standen Tonband­geräte doch erst ab 1951 zur Ver­fügung. Der Komponist Pierre Henry (geb. 1927), Schaeffers erster Mitarbeiter be­rich­tet: "Wir hatten acht Platten­tel­ler zur Verfügung. Es ging da­rum, sich mit ganzer Kraft auf die Klänge zu stürzen. Ich hüpfte den ganzen Tag herum. Ich sprang von einem Plattenteller zum anderen. Ich war zum Meister im Rillen­sprin­gen geworden." (Zitat nach dem mu­si­ca viva Programmheft. 25.6.98) Ihre berühmte Sinfonie pour une homme seul (Symphonie für ei­nen einsamen Menschen, 1949/50), die menschliche Laute wie Atmen und Schritte den veränderten Klän­gen eines präparierten Klaviers gegen­überstellte, war so entstan­den. Und Pierre Henrys "Rock electronique" von 1963 kommt den Sampler-Klän­gen der heutigen Dub-, Scratch-, DJ- und Technoszene näher als der zeitliche Abstand vermuten läßt, benutzt sogar dessen akzentlos pochenden raschen Rhythmus.

Da Schaeffer seinen eigenen kom­po­sitorischen Fähigkeiten wenig traute und eher auf dem Gebiet der Methodik innovativ war, arbeitete er stets mit Komponisten zusammen, denen er als unermüdlicher Missio­nar in Sachen Geräuschmusik die neuen Möglichkeiten eröff­ne­te, darunter auch älteren wie Messiaen, Milhaud und Varèse, der hier die Tonbandeinspielungen zu seinem Orchesterstück Déserts (1954) fertigte. Wichtige An­regun­gen für ihr gesamtes Schaffen er­hielten später berühmtgewordene Kom­poni­sten wie Pierre Boulez, Karl­heinz Stockhausen oder Iannis Xenakis, auch wenn sie die musique concrète nur selten in ihrer reinen Form betrieben.

So revolutionär der Beginn der musique concrète auch war, sie ist in mehrfacher Hinsicht in die Musik­geschichte eingebettet.

Während nämlich damals die jun­gen Komponisten die Richtung der Schönberg-Webern-Schule im auf­kom­menden Serialismus weiter­trie­ben und radikalisierten, setzte die musique concrète den Weg, den Schön­­berg um 1910 in die konse­quen­te Zwölftönigkeit gemacht hatte, hin zu einer echten A-Tonalität fort.

Zum anderen waren Naturlaute von jeher ein Gegenstand der musi­kalischen Nachahmung und Gestal­tung gewesen, von Beethovens Pa­sto­rale bis zu Messiaens "Katalog der Vögel". Oder sogar Bestandteil der Musik: Tschaikowsky ließ zu seiner Ouver­türe "1812" Kanonen abschie­ßen, und bei Respighis "Pini di Roma" sollte eine Nachtigall ihren Part persönlich darbieten (später überließ man dies lieber einem Plattenspieler).

Welche Vorausschau Pierre Schaef­fer 1948 besaß und welch un­terschiedliche Inhalte durch die neuen Mittel Aus­drucksmöglichkei­ten erhalten konn­ten, zeigte sich in solch gegen­sätzlichen und von ihm unabhängig entstandenen Stücken wie Stockhau­sens elektronischer "Gesang der Jünglinge" (1955/56) oder Luigi Nonos "La fabbrica illuminata" von 1964, die beide vorgefundenes oder ‑gefer­tig­tes Klangmaterial verar­bei­teten.

In Konzertsälen blieb die Konkre­te Musik wegen ihres unpersönli­chen Auftretens ein Kuriosum, nicht jedoch in jenem Medium, dem sie ihre Ge­burt verdankt, dem Radio.

Heute gibt es in diversen Rund­funkan­stal­ten, Uni­ver­si­täten und Musikhochschulen Experimen­tal­stu­­di­os, in denen Kom­po­nisten Klang­ma­terial verar­bei­ten oder Radio­künstler komple­xe­ste Hör­abenteuer produzieren kön­nen. Musique con­crète bezog ihre Kraft aus dem Aufbrechen der Einheit von Raum und Zeit und ge­wann da­durch auch Einfluß auf das Hör­spiel. Die aku­­stischen Welt­reisen simultan durch mehrere Kanäle colla­gieren die im Kopf des Hörers ent­ste­hen­den Bilder zu einem anti-eu­kli­di­schen und anti-einsteinschen Uni­ve­rsum zugleich. Meister der Radiokunst sind z.B. Luc Ferrari und Ro­nald Steckel, deren Werke gar nicht so selten gesendet werden.

Ist der Begriff der musique concrète auch schon fast im Ab­grund der Geschichte versunken, wirkt der glückliche Impuls, mit dem Pierre Schaeffer die Musik bereicherte, weitverstreut fort.

Matthias R.Entreß