3.12.1997

Privat und in der ersten Reihe

»Tohuwabohu« im Ballhaus Naunynstraße

 

Allenthalben mahnen Wirt­schafts­politiker eine Umorien­tie­rung des Arbeitsmarktes hin zu Dienstleistungen an. Ist die Tanz- und Theaterkunst gegen derlei Appelle immun? Wie um die Grenzen (und Chancen) solcher Forderungen aufzuzeigen, instal­liert die Performancebühne Berlin, eine lose Vereinigung von Tänzern der freien Szene, im Ballhaus Naunynstraße nun einen Dienstleistungsbetrieb auf dem Tanztheatersektor. In »Tohuwabohu - Performance á la carte« nach der Idee von Lole Gessler, selber Tänzer und Co-Initiator der Gruppe, haben sich die Zuschauer wie in einem Restaurant aus einer »Speise­karte« mit 49 mehr oder weniger kryptischen Piktogrammen ein Menü zusammenzustellen, das ihnen dann, Auge in Auge mit dem Performer, vom Laufsteg dargeboten wird. Doch mit der Auswahl endet der Einfluß des Gastes: Gegessen wird, was auf den Tisch kommt.

Hinter der witzigen Idee verbergen sich zahllose Möglich­keiten künstlerischen Erlebens. Was dabei entsteht, wenn sieben Akteure alle gleichzeitig ihre Vorstellungen geben, ist natürlich ein totales Durchein­ander. Aber nicht in diesem Sinne, sagt Lole Gessler, sondern biblisch als urzeitlicher Schöpfungszu­stand, als Ort und Zeit, wo sich Leere und Wirrnis treffen, ist der Begriff Tohuwabohu zu verstehen, zu dem die Tänzer jeweils sieben Stellungnahmen eigenverantwort­lich und unabhängig voneinander erarbeitet haben. Das Konzept gibt ihnen die Gelegenheit, den aktuellen Stand ihrer künst­lerischen Entwicklung und ihrer derzeitigen Interessen vorzu­führen. Daß sie dabei auf Körper und Bewegung reduziert sind und andere Requisiten nur einbringen können, solange sie transpor­tabel sind und keinen Lärm machen, trägt zur Konzentration auf die Mittel des zeitgenös­sischen Tanztheaters bei. Das Ergebnis dieses Experiments ist nach allen Seiten völlig offen. Die in jedem Moment neue erre­gende Komplexität des Gleich­zeitigen zu erkennen, bleibt der mitwirkenden Phantasie des Zuschauers überlassen - und hier wird sich zeigen, ob dem Chaos eine Welt innewohnt oder es doch bloß in Unordnung versinkt. Das Einzelne im Ganzen, sowie die eigenen Vorlieben und Erwar­tun­gen an Körper- und Bewegungs­kunst zu erkennen, hat man an jedem der neun Abende ab 19 Uhr drei Stunden Zeit.

Matthias R.Entreß

 

Voraufführung am 3.12., Premiere am 4.12. Täglich bis zum 11.12. jew. von 19-22 Uhr im Ballhaus Naunynstraße 27, Kreuzberg.