1998

DER JAZZBASSIST ALS FILMORCHESTER

- Peter Kowald mit »Sidewalk Stories« im b-flat -

 

Ein langer Auftrittsapplaus, wie er sonst nur sehr alten Dirigenten ge­währt wird, begrüßte den Kon­tra­bas­si­sten Peter Kowald am Don­ners­tag­abend im proppenvollen b-flat. Kowald, in dessen Gesicht und Spiel sich fünfunddrei­ßig­jährige deutsche Free-Jazz-Ge­schich­te spiegelt, hat im Zusammen­spiel mit unzähligen Musikern, aber nirgends deutlicher denn als Solist sein Anliegen klar gemacht: Mittels Improvisation ein nichtbegriffliches Denken zu vermitteln, einen Weg zur wachen, skeptischen, kritischen Er­kenntnis des Selbsts als Klang aufzuzeigen. Ungern läßt er sich dabei ertappen, wenn seine zahl­rei­chen avantgardistischen Spieltechni­ken, die dem Baß ein Universum an Klängen entlocken, ein allzu virtuoses oder, schlimmer noch, allzu wohlklin­gendes Eigenleben entwickeln.

Im b-flat nun begleitete Kowald live einen Film und es war überra­schend zu erleben, daß er, der den Baß sonst in eruptiven Attacken wum­mern, quietschen und stöhnen läßt, hier sanft swingte und, rhyth­misch und melodiös ausgefeilt, eine der Handlung angeschmiegte Leitmoti­vik zur Grundlage seiner Improvisa­tion wählte.

Charles Lanes schwarzweißer Stumm­film »Sidewalk Stories« von 1989 ist Charlie Chaplin gewidmet, zeigt aber viel mehr einen schwarzen New Yor­ker Nachfahren Karl Valentins, der sich als sozial deklassierter Porträt­zeichner durch ein geschichtsloses Leben schlägt. Er wird Zeuge eines Mordes, nimmt das Kind des Toten für drei Tage und Näch­te zu sich, ver­liebt sich in eine schöne Frau und gerät in eine Reihe grotesk-verzwei­fel­ter Situationen. Das schräge »Idyll« endet, als sich die Mutter der Kleinen an­fin­det und die New Yorker Wirk­lich­­keit über ihn hereinbricht.

Kowald begleitet diesen lakonischen Film, als habe er auf drei andere Musiker einer Combo achtzugeben, fühlt sensibel den die Situationen umgebenden Stimmungen nach, drängt sich aber weder in den Vordergrund noch verfällt er in illustrative Verdoppelung, nicht einmal bei einer verrückten Verfolgungsjagd zweier Entführer und der darauffolgenden Schlägerei. Wo es die Situation verlangt, greift er aber auch mal ganz synchron zur Trillerpfeife oder zu einer Spieluhr. Die Musik legt sich als melancholischer Schicksalsschleier über den ganzen Film. Kowald, dessen Markenzeichen in guter Free-Jazz-Tra­di­tion die stetige Überraschung ist, fügt seinem Werk hier eine bis­lang ungewohnte Farbe an: warm­her­zi­ge Einfachheit.

Matthias R.Entreß