Sommer 1998

UNPRÄTENTIÖS, HOCHKONZENTRIERT: VARIANTEN DES E-JAZZ

 

Im Rahmen des Jazzprogramms der Hofkonzerte gehörten die beiden groß­angelegten Trio-Improvisationen, die das Publikum im Schmiedehof der Schultheiss-Brauerei am Freitagabend erlebten, wohl zu den ernsthaftesten Darbietungen der Saison.

Außerhalb aller Schubladen die Musik des Tippett-Trios. Die Proble­me der Singstimme als In­stru­ment in der Fre­ien Musik er­schienen bei der text­los bzw. in ei­ner Phantasie­spra­che singenden Julie Tippett weit­ge­hend gelöst. Die immer noch zer­brech­lich wirkende Frau, die vor dreißig Jahren als Julie Driscoll die große Hoffnung der englischen Popmusik war und Ruhm und Reichtum ihrer künstlerischen Weiterent­wick­lung opferte, verzichtete auf die sonst schon zur Pflicht gewordene "Stimmakrobatik". Ihr Ehemann Keith Tippett am Klavier und Schlagzeuger Willi Kellers begleiteten sie buch­stäblich von zwei Seiten und über wei­te Strecken wie unabhängig von­ein­an­der in sich wandelnder Dichte mit eigenen Spannungs­ver­läufen, die sich erst in den unprä­ten­tiösen, doch vieldeutigen Kolo­ra­turen von Julie Tippett trafen. So packend der Zugriff der beiden In­stru­mentalisten auch jeweils war, in magischen Momenten hob sich die Mu­sik wie ein unirdisches Geschmeide in ein fast unklangliches Jenseits. Wunderschön.

Nach der Pause trieb Willi Kel­lers ein Trio ganz anderer Pro­veni­enz an: Mit dem Saxophonisten Ernst-Ludwig Petrowsky und Barre Phillips am Baß, beide längst in Ehren er­graut, führ­te er eine gut dreivier­tel­stündige Studie über den klassischen Free Jazz auf.

Petrowsky, die Nr.1 des DDR-Free-Jazz, der "das Original" nur durch eine dicke Mauer hatte kennenlernen können und den "Jatz" oft ironisch über Eck spielt, kaden­zier­te mit jugendlicher Elastizität und mit beiden Ohren so nah an den Mitspie­lern, daß auch in den erreg­teren Passagen das kammer­musika­lisch dichte Geflecht nie zerriß. Einer der Höhepunkte: das von den beiden anderen hochkonzentriert begleitete Baßsolo des in allen Jazzstilen erfahrenen Amerikaners Phillips.

Zwei Trios, zweimal lebendige und zugleich abgeklärte Improvi­sations­kunst erster Güte und zwei Seiten des hochsensiblen und wandlungs­fä­higen Schlagzeugers Willi Kellers, mit 47 kurioserweise der jüngste Musiker eines großen Abends.

Matthias R.Entreß