Juli 1998
TANGOS AUS DER TIEFE DER RUSSISCHEN SEELE
- Das Berlin-Debüt des Efim-Jourist-Quartetts in der Kreuzberger Schultheiß-Brauerei -
Jede menschliche Erfahrung läßt sich in die musikalische Form des Tangos gießen, auf seinem Rhythmus entfalten sich die Geschichten von Freude und Leid. Um echt zu sein, muß er nicht aus Argentinien stammen, sondern er muß den freien Fluß der Gefühle besitzen und welches Land hat eine reichere Gefühlskultur als Rußland? Das machte das Quartett um den russischen Bajanvirtuosen Efim Jourist bei seinem ersten Berliner Konzert im Schmiedehof der Kreuzberger Schultheiss-Brauerei eindrucksvoll klar.
Die Geschichte des "Tango russe" als volkstümliche und bis in Bauernkneipen verbreitete Musikform begann zu Anfang des Jahrhunderts. Anders als der laszive argentinische Tango, der den dramatischen Widerstreit bedrohlich lauernder und ausbrechender Energien schildert, ist der russische eher retrospektiv und introvertiert. Der Russe träumt. Eine Erinnerung, eine Situation etabliert sich in Form einer melodischen Idee auf dem bekannten Tanzrhythmus - und schweift bald ab.
Kein Tango zeigte die mögliche Vielfalt einfacher Formen und des Ausdrucks drastischer als "Zug ohne Wiederkehr", der vom Abtransport in den Gulag erzählte: aus dem bedrohlichen Stampfen der Lokomotive schält sich der Tangorhythmus, in die Verzweiflung mischt sich bei geschlossenen Augen Fröhlichkeit, der Genuß am Dasein; die Seele schwingt sich auf und wird mit sich intim, Gedanken schwirren herbei; eine Fuge schildert die Unaufhaltsamkeit des Schicksals und der Zug entschwindet im Ungewissen.
Efim
Jourist, 51, Hamburger seit '92, spielt anstelle des kleinen Bandoneons
das große russische Knopfakkordeon, das Bajan, mit traumwandlerischer
Leichtigkeit. Des jungen Eduard Thakalovs Geige, Andreas v.Wangenheims Gitarre
und Michail Koslovs Baß verschlingen sich zu einem dichten Gewirk aus
tiefempfundenen Melodien. Wie Chopin mit Mazurken, Polonaisen und Walzern,
gibt Efim Jourist mit dem Tango der slawischen Seele eine Heimat.
Matthias R.Entreß