1998

ABSCHIED VOM KOSMOS /

FRÜHLING IN ITALIENISCHEN LANDEN

- Die neue Musik Italiens zeigt sich in neuem Gewand

 

Jahrzehntelang hatte die ita­lie­nische Neue Musik in der Sonne oder vielmehr im Schatten zweier Gi­ganten gestanden, an denen nie­mand vorübergehen konnte: Luigi No­no und Giacinto Scelsi. Ihr Tod hat­te, so schien es jedenfalls, wann immer ein italienischer Name bei Kon­­zerten zeitgenössischer Musik auf­tauchte, eine Musikszene hin­ter­las­sen, die sich fast nur um die kos­­mischen und physikalischen Aspek­­te des stehenden Klangs kümmerte.

Die beiden Konzerte [mit dem von Giorgio Bernasconi hervorragend einstudierten Kammerensemble des Orchesters der Emilia Romagna] im kleinen SFB-Sendesaal zum Auftakt der "musica nuova" über die neue italienische Musikszene, in denen vorwiegend Kompositionen der al­ler­letzten Zeit vorgestellt wurden, vermittelten einen erfreulich an­de­ren Eindruck, ja sogar der Begriff "Avantgarde", der mitunter eine ge­wisse Zwanghaftigkeit in sich birgt, wollte sich nicht fügen.

Die trockenen Programmheft-Er­läu­terungen der Komponisten über ih­re komposi­ti­ons­technischen Erfin­dungen wurden von ihren Werken Lü­gen gestraft, denn sie scheuen sich keineswegs mehr, auf ältere musikalische Ver­mittlungsformen und ihre Inhalte zurückzugreifen. Das heißt: Es gibt wieder Stim­mungs­bilder, Gesten, melodisches Material.

In Giovanni Verrandos "Accanto al­la quiete" (1993) für Klavier und Ensemble wurden aus dem stehen­den Klang Quanten von Bewegung abgeschossen und die unter­schied­lichsten musikalischen Felder ent­zündet, Glissandi, melodische Phra­sen und ein Klaviersolo, das an ein wildgewordenes Pianola erinnerte.

Nicola Sani, der als Erratopreis­träger 97/98 ein halbes Jahr zu Gast in Berlin ist, ging in seinem Quartett "A time for the evening" nach T.S.Eliot viel weiter. Aus dem multiphonen, also rauh überbla­se­nen Klang der Klarinette entfaltete er ein polyphones Geschehen mit vier Stimmen, die ganz ihren eige­nen Klangraum behaupteten, bis sie sich langsam in einem gemeinsamen Klang zusammenfanden. Nicht nur in der Besetzung aus Klavier, Klari­net­te, Geige und Cello, sondern auch in der freien verführerisch schönen Melodiebildung erinnerte das Stück stark an Messiaens "Quar­tett auf das Ende der Zeit".

Wie Zitate aus Nino Rotas Film­musi­ken oder aus Zeichentrickfilmen klangen die Phrasen, die Stefano Gervasoni in seinem 6 Jahre alten Stück Animato auf ihren melodi­schen, harmonischen und kontextu­ellen Gehalt austestete, bis ihre Energien erschöpft waren.

Mit filmdramaturgischen Verläufen und sich schier ins Unerträgliche steigernden unheilvollen Span­nun­gen spielte das bereits 1985 von Luca Francesconi komponierte "Da capo".

Das überraschendste und die gei­stige Freiheit der neuen italie­ni­schen Musikszene am deutlichsten be­wei­sende Stück war am zweiten Abend Giulio Castagnolis Konzert für Bratsche und 10 Instrumenten "Fioriture II" von 1997. Die Bratschenstimme aus klassischen chi­nesische Melodien, in der ersten Version für das siebensaitige Ch'in geschrieben, zitiert die fremde Spra­che einer fernen Welt, die aber die Idee tiefer Empfindungen trägt. Diese Melodik ist eingebettet in ein Kontinuum westlich para­phrasieren­der, nachfragender und überset­zen­der Stimmen. Keinesfalls gefälliger Kitsch, sondern, was sich als Fazit über das ganze umfangreiche Pro­gramm sagen läßt, es wird die ab­solu­te Autono­mie des musikalischen Kunstwerks zugunsten einer neuen Utopie von musiksprachlicher Uni­versalität aufgegeben.

Nicht genug gelobt werden kann das von Giorgio Bernasconi her­vor­ragend einstudierte und mit dem Idi­om bestens vertraute Kam­mer­en­semb­le des Orchesters der Region Emilia Romagna, das das aut­hen­ti­sche Musikerlebnis erst möglich machte.

Matthias R.Entreß

 

Weitere Konzerte beim SFB am Samstag mit dem DSO und Sonntag (Porträt Luca Lombardi mit dem Ensemble Modern), sowie Gesprächskonzerte am Mo u. Di im Istituto Italiano. Beginn jew. 20.00 Uhr