Sommer 1998
SPONTANKOMPOSITIONEN REINSTEN WASSERS
Das Trio »Iskra 1903« im Podewil
Mit einem besinnlichen Konzert der englischen Gruppe »Iskra 1903« ging am Samstagabend im Podewil die diesjährige Saison der Hofkonzerte, Abteilung Jazz, zuende, leider im Saal, da sich draußen die erwünschten Wohlfühl-Temperaturen nicht einstellen wollten. Die gutorganisierte und vielköpfige britische Free-Music-Szene ist die Brutstätte zahlloser oft nur kurzlebiger Formationen, einige aber bewähren sich in ihrer Eigenart über Jahrzehnte. »Iskra 1903« (Der Funke, nach einer 1903 gegr. Zeitschrift der russischen Linken) gibt es bereits seit 1970.
Spontane Komposition, wie die Improvisation in dieser eher jazzfernen Musik auch genannt wird, ergibt sich aus dem musikalischen Verhalten jedes einzelnen in der sich ständig wandelnden klanglichen Umgebung. Das Naturell jedes Musikers und sein kompositorisches Vorausdenken bestimmen sein Spiel. Posaunist Paul Rutherford, mit ganz unspektakulär schönem Ton und der mal kribbelige, mal elegische Phil Wachsman, Geige, waren sich in ihrer nach Ruhe tendierenden Spielweise oft einig, während Bassist Barry Guy ein eruptiv geräuschhaftes Element dagegensetzte.
Mit einer willkürlichen solistischen Geste begonnen, fand jedes Stück stets zu einem klaren Ende von großer Selbstverständlichkeit. Je länger dieses besonders nach der Pause reine, abgeklärte Musizieren fortging, konnte man sich um so verwunderter fragen, wie eigentlich diese Musik entsteht, ohne Verabredungen, ohne gemeinsame melodisch-harmonische Durchführung thematischen Materials, ohne affektgeladene Interaktion. Die drei hörten so sensibel aufeinander wie selten, aber sie imitierten einander nicht, blieben stets bei sich: Trotzdem enthielt ihre Gleichzeitigkeit mehr als bloß die Summe ihrer Teile. Die schönsten Momente ergaben sich - ja, es gibt sie auch in der Freien Musik, die schönen Stellen -, wenn Wachsman sich in den atonalen Kantilenen eines ungeschriebenen expressionistischen Violinkonzerts verlor und Rutherford daneben einem eigenen Gefühl nachhing. Musik als Ideal universeller Demokratie.
Matthias R.Entreß