1998

KLINGKLANG UND KOCHKUNST oder:

KRAMBAMBULI IN OHR UND MAGEN

- Fast Forwards "Feeding Frenzy" im Hamburger Bahnhof -

 

Nachdem sich die Freunde der Gu­ten Musik seit nunmehr 15 Jah­ren erfolgreich um die Ver­breitung von ungewöhnlichen Klanger­zeug­nis­sen zwischen Minimal und Krach­sinfonik bemüht und dabei oft die Grenzen zur bildenden und dar­stel­lenden Kunst auf­geweich­t hat­ten, war die Zeit gekom­men, zum Jubi­lä­um auch jene hochentwickelte Kunst zu inte­grie­ren, deren künst­lerischer Wert dem kulturellen nur zu oft nachgeordnet wird: Die Kochkunst.

Zu diesem Zweck hatte der New Yor­ker Performancekünstler Fast For­­ward Sonntagabend im Aktions­raum des Hamburger Bahnhofs 5 Kö­che, 6 Musiker und ihre Ge­rät­schaf­ten im Kreis aufgestellt, um sie 1 1/2 Stunden lang gleichzeitig ihr Werk tun und ein neues da­mit schaf­fen zu lassen. Das Publi­kum je­doch saß wie im Restaurant an Ti­schen und harrte der Speisen und Töne, die da kommen mochten. Es kamen aber nicht alle zu jedem. Die Leckereien unterschiedlichster Pro­ve­nienz wurden wie beim india­ni­schen potlatch verteilt, d.h. die Ser­viererinnen entschieden spontan, auf welche Tische oder vor welche Personen sie ihre Tellerchen stell­ten. An unseren Tisch gelangten im­mer­hin gebratene Maultaschen, Wach­­teleier mit Brennesseln, Kar­tof­fel­quiche, Grie Soß' mit Spargel, Mun­go­sprossen und Grüne Bohnen auf Nu­deln. Daß viele der Gäste die ver­meintliche Ungerechtigkeit stär­ker als das individuelle Erlebnis mit den Lücken als Qualität wahr­nah­men, zeigte sich an den Men­schen­trauben, die sich zum Ende der Veranstaltung hin an den Koch­­stellen bildeten.

Was die Musiker aus ihren In­stru­menten schüttelten, versuchte nicht, das Geschmacks­erlebnis klang­malerisch zu kom­men­tieren, stell­te ihm jedoch die gleiche Viel­falt gegenüber. Frei nach dem auch schon histo­ri­schen Prinzip des ge­lenk­ten Zufalls, das der Urvater aller "Gu­ten Musik" John Cage als erster for­muliert hat­te, waren die indi­vi­duellen Ab­läu­fe nur durch gemein­sa­me Pausen und Lautstär­ke­pläne strukturiert. Doch allein das For­tissimo konnte sich gegen den Lärm der schwat­zen­den Menge durch­­set­zen: wildes Gamelan-Ge­klin­gel auf Glasschüs­seln, Poli­zei­sirenen wie in schwit­zigen südli­chen Marktstraßen. Hier war es Schick­sal des Sitz­plat­zes, ob es z.B. Axel Dörners Trom­peten­at­tacken, Aleks Kolkowskis Geigen­schmalz oder Werner Durands Plexi­glas­röhrengefiepe war, welche man als Solostimme im kakopho­ni­schen Konzert vernahm. Kurz, ein herr­li­ches Chaos fürs Ohr und eine kulinarische Weltreise oder bloß Krambambuli - eine Frage des Geschmacks.

Matthias R.Entreß