1.6.99
NEURONENGEWITTER
"brain
concert" im Eiszeit-Kino - kein Musikfilm
Seitdem
die Menschen denken können, denken Sie über das Denken nach. Doch das Gehirn
ist dabei eher selten Gegenstand der Betrachtung. Für die Psychologie sind die
Vorgänge im Erdinnern der Seele ein unbekannter Spiegel jenes Systems, das sich
durch unsere Geschichte und unser Verhalten äußert. Neurologie und Psychiatrie
dagegen haben erkannt, daß es starke Wechselwirkungen zwischen Hirnfunktion und
Verhalten gibt.
Wegen
ihrer unvorstellbaren Komplexität und Fremdartigkeit sind die Zusammenhänge
schwer darzustellen - und deshalb populärwissenschaftlicher Verbreitung kaum
zugänglich.
In
seinem Dokumentarfilm "brain concert" versucht der Schweizer
Filmemacher Bruno Moll, die Funktionsweise des Gehirns von der Frage her zu
beleuchten: Was geschieht eigentlich, wenn wir Musik hören, wie kommt es, daß
sie auf uns wirkt?
Damit
geht Moll anders vor als die meisten Filme, die das Thema Gehirn anschneiden.
"Ò" und "Kopfleuchten" haben sich mit dem Zerbrechen von
Denken und Wahrnehmung befaßt, auch der berühmte Film "Zeit des
Erwachens" nach Oliver Sacks' Fallstudien hat sich mit den faszinierenden
Aspekten der Fehlfunktionen des Gehirns befaßt. Moll dagegen sucht nach
Erklärungen der Normalfunktionen. Ihm war von vornherein bewußt, daß eine
erschöpfende Behandlung des Themenkreises zum Scheitern verurteilt war.
Sinnfällig
wird das beim Zerschneiden eines Hirns vor der Kamera. An der homogenen Masse
mit der Konsistenz eines frischen harten Champignons erkennt man buchstäblich
nichts von alldem, was dazu erklärt wird. Und was mithilfe von EEG und
Kernspintomographie festzustellen ist, bleibt dürftig und ungenau. Welche
Bedeutung mag es schon haben, daß bei Free Jazz der linke Gehörlappen weniger
angeregt wird als bei Mussorgskys "Bildern einer Ausstellung"? Was
aber möglich ist, ist die Sensibilisierung für die Basis des Empfindens und die
Tatsache, daß jeder Mensch ein wenig anders wahrnimmt. Und daß Krieg und Musik
dem gleichen Organ entspringen, zwei Aspekte der menschlichen Kultur sind.
Faszinierender
als die mehr oder weniger anschaulichen Erläuterungen namhafter Neurologen und
Philosophen sind die Lücken, die der Film läßt und in die man mit eigenen
Fragen stößt. Der Zuschauer beginnt, bei den Musikbeispielen in sich selber
nachzuforschen, wie er fühlt, merkt, was ihm wohltut und was nicht. Wie
arbeitet unser Gehirn, wenn wir die Interpretation eines geschätzten
Musikstückes ablehnen? Was ist Geschmackssache? Dazu schweigt der Film zwar,
aber es bildet sich eine Ahnung vom untergründigen Brodeln in einer unbekannten
Dimension.
"brain
concert" ist ein erster zaghafter Schritt zu einer Sprache über eins der
letzten großen Menschheitsrätsel.
Matthias
R.Entreß