15.5.99

 

MEHR GERÄUSCH!

Lachenmann gegen Beethoven beim BSO unter Gielen

 

Neue Musik und Klassik, noch immer eine skandalträchtige Mischung?

Michael Gielen, als Dirigent bewährter Verfechter der Avantgarde, schien es jedenfalls für ein Wagnis zu halten, Helmut Lachenmanns "Fassade" auf das Programm eines Abo-Konzerts beim BSO zu setzen. Anstatt dieses kraftvolle und virtuose Stück den Hörern im ausverkauften Haus einfach vertrauensvoll zu übergeben (und sie ihren Schocks und Irritationen zu überlassen), hielt er erst ein kleines Referat über das Geräusch in der Musik. Gewiß gut gemeint, um den "spießrutenlaufenden Komponisten" (Lachenmann über sich selbst) vorm Ärgsten zu bewahren. Es klang aber wie eine Entschuldigung. Das Publikum war gewarnt, ging in Deckung und ließ sich weder provozieren noch faszinieren. Schade.

"Fassade" von 1973 beharrt auf der Gleichberechtigung von Geräusch und Ton. Mit dem besten Recht: in diesem heimlichen Marsch - Fassade der Gewalt - paradiert eine unerschöpfliche Vielfalt instrumentaler Geräusche vorbei, in wohlkonstruierten Kombinationen und fein zum Ton hin abgestuft. Der Gegensatz von Harmonie und Dissonanz ist aufgegeben, die "Geschichte" somit ein Wechselbad des Hörens und nicht mehr des Seelenschmerzes. Auf die Präsentation der Waffen (neben dem Orchester E-Gitarren, Synthesizer und riesige Schlagzeuggruppe) folgt ein wildes Feuerwerk mit hunderten gegen- und übereinanderstürzenden Explosionen. Ein "unerträglich" langes Tonbandrauschen mit untergemischten Kinderstimmen bringt schwindelerregende Spannung, Einbruch der fernen äußeren Welt. Mit einer Zahl gezielter, in sich ungemein komplexer Krachgeschosse geht dieses Meisterwerk zuende.

Wenn auch die hervorragende Leistung des Orchesters, das seit Montag geprobt hatte, nicht ausreichend beklatscht wurde, stand nach der Pause Beethovens Siebte nun doch in einem anderen Licht. Das von Lachenmanns Stück freigepustete Gehör verlangte auch hier nach dem Ereignis des Klingens. Aber zu schön, zu sauber, zu fern der Wirklichkeit war diese Musik, wie Gielen sie in gewohnt flotten Tempi spielen ließ. Ein rauherer Ansatz, mehr Geräusch, hätte dem berühmten Allegretto-Trauermarsch Erdenschwere verliehen. Erst im sich überstürzenden Geschwindmarsch des Finales gab es Futter für den neuentdeckten Sinn - den Beethoven zunehmend verlor, als er an seiner Siebten saß. Aber wir besitzen ihn noch, das ist die Lehre aus diesem Konzert.

Matthias R.Entreß

 

Heute zum letzten Mal im Konzerthaus Gendarmenmarkt, 20 Uhr

Mehr von und über Helmut Lachenmann am Sa, 22.5., 19.30 Uhr: EnsembleUnited Berlin. Woher - Wohin, Komponieren heute. Konzerthaus Kammermusiksaal. Kartentel.: 20309-2101/2