8.9.99

HÖREN ALS HERAUSFORDERUNG

- Heute beginnt im Kleinen Wasserspeicher Prenzlauer Berg die Kryptonale V -

 

Neue Wege nach dem Ende des utopischen Zeitalters: Die Kryptonale, das Musikfestival für experimentelles Hören, macht Wahrnehmung zur Metapher zukünftiger Möglichkeiten. Wer hat nicht schon einmal sein Lieblingsstück unvermittelt im Warenhaus oder auf der Straße vernommen und war davon auf eine Weise berührt worden, die eine reguläre Aufführung nicht bieten kann? Die Kryptonale macht ab heute an sechs Abenden das Ungewöhnliche zum Prinzip, und eröffnet ungeahnte Freiheiten der Wahrnehmung. Der verwinkelte Kleine Wasserspeicher Prenzlauer Berg verstößt gegen alle Regeln "ergonomischer" und zweckmäßiger Auditoriumsarchitektur. Während das direkte Gegenüber von Künstler und Publikum hier eher den Sonderfall darstellt, gewährleistet die akustische Durchsichtigkeit dieses magischen Gewölbes das Bad im Klang bis in die hinterste Ecke. Was der Besucher wahrnimmt, obliegt hier seiner eigenen Verantwortung. Er mag - gut eingewickelt, denn der Ort ist kühl - auf seinem Stuhl verharren oder umhergehen und seine eigenen Perspektiven auf die Musik erobern. Hören und Sehen werden zur individuellen Herausforderung.

Auch in diesem Jahr haben sich zahlreiche namhafte Spezialensembles für Neue Musik, Improvisation, Performance und Tanz angesagt.

Den Reigen eröffnet heute Butch Morris mit seinem 17-köpfigen Improvisations-Orchester "Berlin Skyscraper" mit Jazzmusikern und "klassischen" Instrumentalisten. Morris dirigiert und überwacht die kollektiven Improvisationen und kann so den Raum als musikalisches Element unmittelbar einbeziehen. Im Wechsel damit wird das "Moscow Contemporary Music Ensemble" Werke von Isang Yun und russischen Zeitgenossen zur Aufführung bringen.

Im Verlauf des Festivals werden sich fast unüberschaubar viele mehr oder weniger avantgardistische Aufführungsformen an der Örtlichkeit erproben. Härteste Gegensätze treffen z.B. am morgigen Freitag aufeinander, wenn einem zarten Vibrafonsolo von Rodney Sharman die steinerne Gewalt von Iannis Xenakis' "Medea Senecae" sowie die visuelle Sprachperformance "entlöse" und Improvisationen des Trios Armchairtraveller folgen.

Neben anderen Werken ist am kommenden Samstag dem Deutschen Protagonisten der Raumklang-Komposition, Johannes Wallmann, eine kleine Retrospektive aus 21 Jahren gewidmet, die durch Live-Malerei, Projektionen und Tanz (mit Yuko Kaseki und Mark Ates) um eine visuelle Dimension erweitert wird.

Die zweite Konzertserie widmet sich am 17. und 18.9. elektronischen Klanglandschaften und den zahlreichen Kombinationsmöglichkeiten, die sich aus Sprache, Live-Musik, Tonband, Licht und Tanz ergeben, darunter das "Winter-Tagebuch" von Murray Schafer, dem Vordenker der Klang-Ökonomie. Furioser Ausklang am 19.9: Würfelspielmusik nach Stockhausen, Wallmann und Henry Mex mit Mitwirkenden des Festivals, das von "recur", einer 3-teiligen Installation von Karen Bertram, Mex, Hertzer und Tkotz im noch unheimlicheren Großen Wasserspeicher nebenan, begleitet wird.

Matthias R.Entreß

 

Kleiner Wasserspeicher, Eingang Kolmarer Straße links neben dem Spielplatz, Berlin-Prenzlauer Berg, Kartentel.: 42 85 03 54. 9.-11.9., 17.-19.9., jew.21 Uhr. Unbedingt warme Kleidung mitbringen!

 

12.9.99

KRYPTONALE V - DAS ERSTE WOCHENENDE

 

Der Raum ist ein Traum. Wie Wasser strömt der Klang in jeden Winkel. Aber dieses unterweltlich Erdinnere, das der Kleine Wasserspeicher, seit 1994 Schauplatz der "Kryptonale", bietet, verlangt auch viel und will bespielt sein. Doch merkwürdig wenige der durchaus abwechslungsreich gewählten Ensembles der ersten Festivalhälfte setzten sich mit den konzeptionellen Möglich─, ja Notwendigkeiten dieses akustischen Juwels genügend auseinander. Eklatant machte sich das im Falle des Auftritts von Butch Morris' Berlin Skyscraper bemerkbar, denn niemand wäre für die musikalische Erkundung des Raums mehr prädestiniert gewesen. Morris, ein Voodoo Magier mit Taktstock, formt mit feurigen Blicken und Gesten die Improvisationen des stilbunten Orchesters. Gleichwohl erschien die innerlich lebhafte Vielstimmigkeit wie abgewürgt. Obwohl Morris viele stereofone Klangwechsel inszenierte, hatte er die Musiker alle im Mittelpavillion des Wabensystems gruppiert und vergab damit nicht nur einen schönen Effekt. Und auch das Publikum, wenig entdeckungsfreudig, machte von der Einladung, die Ohren spazierenzutragen, kaum Gebrauch.

Raumklangwunder mit schlichtesten Mitteln kamen von der kleinen Bläserdelegation des Moskow Contemporary Music Ensembles, das drei Solostücke, u.a. von Edison Denisov nacheinander von drei Seiten erklingen ließ.  Musik als körperloses Wesen - von keinem Platz aus konnte man alle drei Solisten sehen - packt den Geist stärker als jede noch so spektakuläre beobachtbare Aktion.

Auf interessante Weise reflektierte Ulrich Schlotmanns Sprachperformance "entlöse" mit Videogeflacker von g.ess.zeitblom am Freitag die dem Wasserspeicher eigene Fragmentierung von Ausdruck und Wahrnehmung.

Die komplexe Architektur gestattet Gleichzeitigkeit und Koexistenz. Nicht nur die gelassen vor sich hin plätschernden und ploppenden Installationen aus Tonbandschleife und Rohrpostrohren mit dem gemeinsamen Titel "recur" im Großen Speicher nebenan, eine Hommage ans Wasser, sondern auch die Raumklangkompositionen Johannes Wallmanns streuten ihr vielschichtiges Gewebe (ungemein frisch mit "work in progress": "Synopsis" von 1978) in den Raum, bzw. sensibilisierten schwankende Gleichtönigkeit durch ihn. Die gleichzeitigen Versuche einer Visualisierung durch Malerei oder Tanz wirkten allerdings ein wenig betulich.

Mit dem DJ/Schlagzeug-Trio "hpw.panta rhei" hielt schließlich der Cyberspace Einzug in das alte Gemäuer und gab einen Vorgeschmack auf die elektronisch dominierten Raumklang-Konzerte des nächsten Wochenendes.

Matthias R.Entreß

 

Weitere Konzerte im Kleinen Wasserspeicher, Eingang am Spielplatz Kolmarer Straße, Berlin-Prenzlauer Berg, Kartentel.: 42 85 03 54. 17.-19.9., jew.21 Uhr. Unbedingt warme Kleidung mitbringen!

Ausstellung im Großen Wasserspeicher, Eingang Belforter Straße, Prenzl'berg,  bis 19.9., tgl.16-23 Uhr, Sa/So 14-23 Uhr. Performances Sa/So 16 u.19 Uhr.

Mehr Infos unter www.kryptonale.de

 

 

 

RAUMKONZERTE - KLANGRÄUME

- Kryptonale IV ging erfolgreich zuende -

 

Gegenüber so perfekten Konzertsälen wie unseren Philharmonien, wo man die Musiker von allen Plätzen fast gleich gut hören und sehen kann, hat der verwinkelte Wasserspeicher Prenzlauer Berg natürlich ganz erhebliche Nachteile. Die diesjährige 4.Kryptonale, die am Wochenende nach sechs langen Abenden bei außerordentlichem Publikumszuspruch zuende ging, verwandelte diese Nachteile für Zuhörer, Musiker und Komponisten in neue Freiheiten. Nicht künstlerische Anstrengung - besonders wenn sie sich wie hier auch von ihrem ganzen Wesen herkömmlicher Rezeption verweigert - ist man in der Lage, angemessen zu genießen. Der Wasserspeicher erlaubt es, herumzugehen, sich auf sich zurückzuziehen, und so in Distanz doch anwesend zu sein.

Die Kryptonale gab Komponisten wie Johannes Wallmann, die sich ganz ausdrücklich auf den Raum als sozialen wie architektonischen Ort beziehen, gleichermaßen Gelegenheit, wie Ensembles, die sich ungewöhnlichen Musizierkonzepten verschrieben haben. Das fünfköpfige "2:13 Ensemble" hatte ihre Komposition "Isomerie" in mehrmonatiger improvisierender Arbeit gemeinsam geschaffen. Nicht gelungen war es ihnen, eine Musik aus klar strukturierten Verläufen zu gestalten, der Wechsel aber der unterschiedlichen Elemente ergab aber eine brüchige Statik von großer Gefährdung. Der künstlerische Prozeß war selten so schmerzhaft spürbar wie hier.

Karlheinz Stockhausens "Kurzwellen" mit dem Kammerensemble Neue Musik unter der Klangregie des schon bei der Uraufführung 1969 beteiligten Johannes Fritsch wies hier eine besonders interessante Disparatheit zwischen den auf der Mittelbühne an Instrumenten und KW-Radios laborierenden Musikern und den aus dem Außenring des Speichers tönenden Lautsprechern auf. Musik, die sich auf den Raum, in dem sie ertönt, bezieht und den Hörer ihr nicht gegenüber-, sondern in sie hineinzieht, wird mit größerer emotionaler Beteiligung erlebt. Es sind dieselben Regionen des menschlichen Gehirns, die räumliche Wahrnehmung wie Musik verarbeiten. Sind solche Räume mehr kultischen als kulturellen Erlebens also intellektueller Rezeption verschlossen? Keineswegs, wie das Konzert des Pellegrini-Quartetts am vergangenen Sonnabend zeigte. Niemals wurden die Bruitismen des Streichquartetts "Tetras" von Iannis Xenakis mit solch ehrlichem freudigen Vergnügen aufgenommen wie hier. Das Knarzen und Grunzen des Cellos konnte hier als das erkannt werden, als was es wahrscheinlich wirklich gemeint war, als purer Spaß. Ganz anders breitete sich dagegen Morton Feldmans 50 Minuten langes "Clarinet and String-Quartet" aus. Obwohl die Musiker eng beieinander saßen, ergab sich ein langgestreckter Raumklang, der die vollkommen entspannten Hörer wie von allen Seiten umgab.

Ergänzt wurde die Kryptonale durch eine Klanginstallation im für Konzerte untauglichen Großen Wasserspeicher, der den Raum mit grellen Schwebungen markierte und den Besucher in akustischen Wellen ertrinken ließ.

Matthias R.Entreß