16.6.99

MUSIK, DIE SICH WIE EINE BLUME ÖFFNET

Abschiedskonzert des DAAD-Stipendiaten Giulio Castagnoli

 

Nach anderthalb Jahren DAAD-Stipendium heißt es für den Turiner Komponisten Giulio Castagnoli nun bald Abschiednehmen von Berlin. Am Dienstagabend hatte das Publikum im kleinen Sendesaal des SFB noch einmal Gelegenheit, seine kraftvolle weitgespannte Musik kennenzulernen: Das Mailänder "Divertimento Ensemble" präsentierte einen Querschnitt durch sein Schaffen.

Das Werk von Castagnoli, Jahrgang '58, Akademieprofessor in Turin seit zehn Jahren, entspringt aus der Verschmelzung der unruhigen und geschmeidigen "Neuen Komplexität" Brian Ferneyhoughs, bei dem er in Freiburg studiert hat, mit der vielschichtigen meditativen Klangforschung Giacinto Scelsis (1905-88), dem Guru der italienischen Avantgarde. Im Konzert wurde dies vom "Doppelquintett" ('88) mit einem wuchernden Kontinuum aus Klang- und Melodiesplittern modellhaft demonstriert. "Der Klang", sagt Castagnoli, "ist der Ursprung aller Melodie und Bewegung. Er stellt den Kontakt zwischen Kultur und Natur her."

Von diesen gegensätzlichen, eher abstrakten Schreibweisen ausgehend, öffnet sich Castagnolis Musik sowohl in Richtung fremder Kulturen als auch konkreten Vorstellungen. Im lautmalerischen "Cloches en noir et blanc" von '91 waren das die Glocken in der Landschaft seiner Turiner Heimat sowie aus der ganzen Welt.

Methodisch (freilich nicht stilistisch) sieht Castagnoli eine Verwandschaft zu Robert Schumann. Die Entwürfe seiner Stücke stützen sich - wie bei Schumann - stets auf einen Gedanken, ein Bild oder ein Gedicht. Er umkreist dieses geistige Objekt und beleuchtet es von allen Seiten.

Eine Überraschung erlebten die Hörer mit den beiden "chinesischen" Stücken des Programms. In dem Bratschenkonzert "Fioriture II" (Blüten) von '97 umschmiegten geräuschhafte Klangwogen des Ensembles mit äußerster Zartheit die Solostimme (an der Bratsche: Maria Ronchini), die in uralten chinesischen Melodien aus der T'ang-Zeit schwelgte und die Poesie eines versunkenen Fernen Ostens beschwor. Die "Drei T'ang-Gedichte" von '95, die ohne Gesang den musikalischen Akt als Ritual schildern, münden geradezu in ein freudiges chinesisches Drachenfest. Lächeln auf allen Gesichtern im Saal.

Sein Gefühl für das Organische in der Musik rührt, so vermutet der Maestro, von einer Fernsehoper her, die er schon mit 22 Jahren für und mit kleinen Kindern erarbeitete. "Diese Erfahrung war für mich genauso wichtig wie das Studium bei Ferneyhough."

Zu schön um wahr zu sein war zum Schluß "Costellazioni" (Sternbilder) für Gitarre und kleines Ensemble, die letzte Frucht seiner überaus produktiven Berliner Zeit. Ein überbordendes west-östliches Melodienglück hatte sich hier ganz unkommentiert in den Vordergrund geschoben. Doch muß diese Adaption fremder Musik nicht als Nostalgie sondern philosophisch als Hölderlinsches "Andenken" verstanden werden.

Matthias R.Entreß