17.5.99

 

DER BLUES DER BOHÉME

Das "Gran Teatro Amaro" in den Sophiensælen

 

Wenn über den sommerlichen Metropolen Europas der Mond am Himmel steht und der Wein von der Seele Besitz ergreift, dann ziehen die fünf Musiker vom "Gran Teatro Amaro" aus, um Gefühle zu sammeln. Das "Große Theater der Bitternis" ist so bitter nicht, wie sich am Sonntag beim ersten Berliner Gastspiel mit neuer Besetzung in den Sophiensælen zeigte.

Die Keimzelle ihres Programms ist die leichte Musik des Volkes, wie sie auf den Straßen und Plätzen gesungen wird. Touristen in Amsterdam, Paris und Rom erfahren diesen Klang als klimatische Bedingung. Er hat nichts von der anglo-amerikanischen Massenmusik an sich, und doch ist er das europäische Pendant zum Blues.

Die Gruppe um Roberta Possamai (Gesang, Akkordeon) aus Italien und den holländischen Gitarristen Robert van der Tol ziehen die Hörer auf eine Fernweh-Tour europäischen Laissez-faires. Man lehnt sich zurück und genießt.

Das "Teatro" spielt ohne Strom! Wie gut das klingt! Sofort stellt sich eine nie erlebte Intimität ein. Tiedos schepperndes Kleinschlagzeug verdeckt nicht Robertas liebes Stimmchen. Der Geräuschemacher Gat aus Barcelona fügt hier und da ein kleines Chaos ein. Ausgefeilte Tempo- und beißende Tonartenwechsel erhöhen den Klang der Volksmusik zu hoher Kunst und machen die Welt der Musetten und Canzonen zu einem großen imaginären Theater der Gefühle. Überall ein wenig Traurigkeit, ein wenig Wut. Aber nicht so schlimm! Wenn Mischa Kool breitbeinig seinen Kontrabaß zersägt, und Robert mit rotem Gesicht an den Gitarrensaiten reißt und schreit "Keine Gnade für die Reichen!", dann ist im nächsten Moment doch wieder ironischer Swing angesagt. In ihrer herzerfrischenden Unmodernität erwecken die 5 Fahrensleute eine versunkene Welt der Bohéme zu neuem Leben. Ein wunderbarer, überraschender Abend. Auf Wiedersehen im Oktober.

 

Matthias R. Entreß