8.10.01
Trauma einer Generation
Henzes "Sinfonia N.9" mit RSB und Rundfunkchor unter
Rolf Gupta
Kein Werk hat sich der Rundfunkchor Berlin in den letzten Jahren
so zueigen
gemacht wie die "Sinfonia N.9" von Hans Werner Henze.
Seit der Berliner
Uraufführung 1997 ist das siebensätzige Stück von mehreren
Orchestern,
darunter den New Yorker Philharmonikern, jedoch stets mit dem
Rundfunkchor
aufgeführt worden. Mit bestem Recht also stand es am Sonntag,
begleitet vom
RSB unter dem jungen Dirigenten Rolf Gupta auf dem Programm des
chor-eigenen
Abonnementkonzerts im Konzerthaus.
Eine siebenteilige Chor-Erzählung nach Motiven aus Anna Seghers'
Roman "Das
siebte Kreuz" - eine Sinfonie? In diesem Stück, das aus
innerstem Erleben
von der Flucht von sieben KZ-Häftlingen erzählt - sechs sterben,
doch einer
kommt durch - treffen moralische Betroffenheit, Emotionalität
und
künstlerische Kalkulation in idealer Weise aufeinander. Die
Satzcharaktere
der klassischen Sinfonie wie Allegro, Andante, gar ein Scherzo
mit dem
schneidigen und hasserfüllten Rapport von der erfolgreichen
Menschenjagd
finden sich hier in äußerst scharfer Zeichnung wieder. Die
Tatsache, dass
der 1926 geborene Henze hier das kollektive Trauma seiner
Generation, die
hilflose Mitschuld an den Nazi-Verbrechen, abarbeitet, hinderte
ihn nicht
daran, eine Musik zu schreiben, die von klanglichen Schönheiten
nur so
überfließt. Sein Ausdruck ist stets direkt, mal gebietet er die
Zustimmung
der Hörer, mal wirbt er verführerisch um sie. Die dialektische
Feinheit
eines Luigi Nono, des anderen politisch motivierten Komponisten
seiner
Generation, geht Henze ab. Mit diesen Widersprüchen muss sich
abfinden, wer
Henzes Neunte aufführt, und in diesem Sinne dürfte der Abend
schwerlich zu
übertreffen gewesen sein. Der Rundfunkchor realisierte nicht nur
meisterhaft
die virtuosen Ansprüche der Partitur, sondern zeichnete die
aufregenden und
aufwühlenden Situationen der Romanvorlage so eindringlich nach,
dass der
Gesang selbst zur Bühne wurde. Was natürlich auch Henzes Talent
als
Theatermusiker gerecht wurde. Nicht weniger staunenswert war die
Eleganz,
mit der Rolf Gupta, Schwede von indisch-norwegischer Abkunft und
mit 32
Jahren bereits renommierter Sachwalter der Moderne, die explosive
und
vielgliedrige Musik mit einfachen großen Gesten zusammen- und in
Schwung
hielt und höchste Durchsichtigkeit bewahrte.
Matthias R. Entreß
Hinweis: Philharmonie, KMS, 27.10., 19 Uhr: Konzert zum 75.Geburtstag
von
Hans Werner Henze, ebenfalls mit Rolf Gupta