9.8.01
Indische Glückshormone von der Leinwand
Das Arsenal zeigt "Bollywood"-Filme: Quietschbunt, turbulent und
völlig anders
Beim indischen, genauer beim Bombay-Film, gehen die deutschen Nasen im
Chore hoch und es verlautet: "Das ist Kitsch. Kunterbunt und
rührselig."
Wenn aber "Bollywood", wie die zweitgrößte
Filmindustrie der Welt genannt wird, jährlich Hunderte Filme auf den Markt
wirft, die in Indien Blockbuster werden und auch in England, den USA und in
vielen asiatischen Ländern mit Erfolg laufen und nur bei uns so gut wie
unbekannt sind, dann liegt das vielleicht nicht an Bollywood.
Das Arsenal bietet nun vom 9.-27.8. eine achtteilige Retrospektive des
Bombay-Kinos vorwiegend der Neunziger, und die sei den deutschen Verleihern -
und dem Publikum - dringendst ans Herz gelegt. Denn hier geht es um die
Entdeckung einer Filmkunst, die dem US-europäischen Primat von Psychologie,
Suspense und Gewalt entschieden widerspricht und dem deutschen Zuschauer Dinge
zu sagen und Empfindungen zu vermitteln hat, die er nirgends sonst so
authentisch-kunstvoll und doch direkt bekommt.
Auch wenn der übertriebene Starkult und die großindustriellen
Produktionsweisen es nahelegen, darf man die Bollywood-Filme nicht über
einen Kamm scheren. Ein aufmerksames und mit den Regeln und Konventionen
vertrautes heimisches Publikum reagiert auf jede Abweichung, versteht die
Signale. So setzte z.B. der Mega-Hit des Jahres 1994 "Hum Aapke Hain
Koun" (Was bedeute ich dir?, 19.8., 19 Uhr) der Tendenz zur
Gewaltdarstellung im Kino ein Ende. Dieser vielleicht "radikalste
Kitsch-Film" der Reihe kreist fast ausschließlich um Hochzeiten und
zarte Liebesbande zwischen zwei reichen Familien. Hier findet sich
überreichlich Anlass zu Tanz, Gesang und schmachtenden Blicken in
unzähligen Varianten (und virtuosen Kameraeinstellungen), bis nach etwa
zweieinhalb Stunden pompösen Glücklichseins, in denen sich die
Handlung zu einem ereignislosen Dahinplätschern beruhigt hat, ein
häuslicher Unfall die junge Mutter und Ehefrau dahinrafft. Soll nun ihre
Schwester den untröstlichen Witwer heiraten? Doch die ist schon seit
über einer Stunde in dessen Bruder verliebt...
Warum solche verschobenen Handlungsproportionen und schwach motivierten
Stimmungswechsel vom indischen Publikum hingenommen werden, lässt sich
pauschal mit dem Hinweis auf die andere Kultur beantworten. Auch die indische
Musik funktioniert völlig anders als die europäische und ist dennoch
richtig. Was wir Kitsch, beliebig verfügbare Gefühle, nennen, ist im
Bollywood-Film ein genuines Ausdrucksmittel, unverzichtbarer Baustein in der
Sinfonie der Erregungen. Und ein Suchtmittel. Mindestens fünf Songs und
neun "rasas", das sind Ingredienzien wie Liebe, Schrecken und Wunder,
muss ein Film enthalten, um nicht zu floppen. Und ein Happy End.
Während in "Hum Aapke..." die Wirklichkeit kaum in den Traum
eindringt, steht in Mani Ratnams "Bombay" (1995, 16.8., 21.15 Uhr) das
Glück auf wackeligen Füßen. Zwar verwandelt auch hier die Liebe
die Hauptpersonen in Schlagersänger, doch das Paar, er Hindu, sie Muslimin,
muss vor den intoleranten Eltern nach Bombay fliehen. In einer atemberaubenden
Schnittfolge gehen Jahre dahin, Zwillinge werden geboren und wachsen auf, doch
dann setzen die Religionsunruhen von '92/93 die Stadt in Flammen. Dieser
dramatische Umschlag der Handlung vom Privaten in die von außen
hereinbrechende Katastrofe gleicht der zweiteiligen Dramaturgie von
"Titanic" und verfehlt auch hier seine Wirkung nicht. Die Songs von
A.R.Rehman, der auch die Musik für Ratnams "Dil Se" (Von Herzen,
1998, 11.8., 21.15 Uhr), sowie für "Taal" (1999, 24.8., 21 Uhr)
geschrieben hat, binden opernartig die Handlung in die Musiknummern ein, die im
Fall der brutalen Schlacht-Szenen ("Hört auf!") den Aufschrei der
Vernunft verallgemeinern.
Eröffnet wird die Reihe am 9.8. (19 Uhr) mit "Baazigar"
(1998), einem der seltenen Hindi-Gangsterfilme, und sie endet mit dem Doku
"Kumar Talkies" (27.8., 19 Uhr), der Aufschluss über die
Kinoleidenschaft der Inder gibt. Ein Klassiker von 1972, "Seeta und
Geeta" (13.8., 19 Uhr), sowie das Remake von '89, "Chaalbaaz"
(13.8., 19 Uhr) gestatten einen Blick in die ästhetische Entwicklung
Bollywoods. (Da die meisten Filme selbst in den englischsprachigen Ländern
ohne Untertitel gezeigt werden, hat man sich entschlossen, auf die technisch
hochwertigen DVDs zurückzugreifen, die wenigstens eine englische
Übersetzung anbieten.) Die Retro begleitet übrigens Michael Laubs
indische Tanz-Soap-Opera-Parodie "Total Masala Slammer" im Hebbel
Theater (10.-12.8., jew. 20.30)
Matthias R. Entreß